Gaia Ginevra Giorgi (24. Hausacher LeseLenz 2021) – Der leuchtend gespenstische Altar der Gaia Ginevra Giorgi

Liebe Familie LeseLenz,

wow! Gaia Ginevra Giorgis Eltern haben hoch gepokert!

Gaia ist in der griechischen Mythologie die personifizierte Erde. Das lebendige Wesen Erde. Der Name ist indogermanischen Ursprungs und bedeutet wahrscheinlich die Gebärerin. Bei Hesiod entstand Gaia als eine der ersten Gottheiten aus dem Chaos. Für die Orphiker ist sie als einzige Gottheit ohne Befruchtung hervorgegangen. Das heißt: ohne die Verwirrungen der Liebe. Ohne deren Schmerz. Ohne das Zerreißende der Vereinigung. Ohne den Schmerz der Geburt. Bei Hesiod gebiert Gaia auch ohne Befruchtung. Dabei ist sie die Große Mutter aller Wesen. Die himmlischen Götter entstanden aus Gaias Verbindung mit Uranos, dem Himmel – unter anderen die Zyklopen; die Meeresgötter aus der Verbindung Gaias mit Pontos, dem Meer; die Giganten aus ihrer Verbindung mit Tartaros, und die sterblichen Geschöpfe direkt aus Gaia. Wir Menschen sind also, mütterlicherseits, mit den Zyklopen verwandt. Und mit den Giganten. Das erklärt einiges. Beim Tod eines Menschen, so der griechische mythologische Glauben, steige die Seele zum Aither hinauf, der Körper aber sinke in Gaia hinunter. Auch Todesgottheit, die die Menschen nach deren Tod wieder in ihrem mütterlichen Schoß aufnimmt. Auch Rache- sowie wahrsagende Göttin.

Ginevra ist die italienische Form des in der walisischen Mythologie zentralen Namens Guinevere. Gwenhwyfar – die Wurzel gwen für weiß, pur, in Verbindung mit sebara, Gespenst, Dämon, magische Kreatur, Elfe – bedeutet in etwa die weiße Fee. Der weiße Geist. Leuchtendes Gespenst. Die Weiße zwischen den Elfen. Die inmitten der Elfen Strahlende. Ein Name als magische Lichtung von Bedeutungsmöglichkeiten inmitten des dunklen Walddickichts der Realität. In der keltischen Mythologie von Wales und der sich daran anschließenden Artus-Sage ist Guinevere König Artus' Frau und in späteren Überlieferungen die Geliebte des Ritters Lancelot. Begehrenswert. Verschleppenswert. Kriege wert. Aber solche Frauenbilder zerreißt Gaia Ginevra Giorgi zurecht in der Luft. So etwa in ihrem 2019 in den Edizioni della Sera erschienenen biographischen Essay Sylvia Plath. L’altare scuro del sole – auf deutsch, eine Übersetzung wäre dringend zu wünschen: Sylvia Plath. Der dunkle Altar der Sonne. Gaia war zu Beginn ihrer Arbeit dazu bereit, der üblichen Schuldzuweisung zu folgen, die Ted Hughes für Sylvia Plaths Selbstmord verdammt – konnte das aber nach ihrer jahrlangen Recherche nicht, nennt sie stattdessen ein Ablenkungsmanöver, in dem der Feminismus sich selbst nicht gerecht wurde. Stattdessen nimmt Gaia Plaths Werk und Leben zum Anlass, die patriarchalische Gesellschaft zu ihrer Lebenszeit und auch heute zu reflektieren, die sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontexte zu rekonstruieren, in denen Plath schrieb, liebte, lebte, dachte, rebellierte und Todesängste litt. Die Kontexte, deren Unfreiheiten Privates überstiegen. An denen sie zerbrach. Inmitten derer der flammenden Autorin der Durchbruch einfach nicht gelang. Kein Ausbruch aus patriarchalisch geprägten Äbhängigkeiten. Gaia legt zärtlich Sylvias eigene Widersprüchlichkeiten frei, und ich bin zutiefst gerührt und dankbar – mehr könnten auch wir uns nicht wünschen als solche äußerste verständnisvolle Annäherung. Die Umarmung unserer Widersprüche. Naja, vielleicht schlafe ich einfach drei Monate lang zwei Stunden weniger pro Nacht, dann haben wir die Übersetzung.

Stark sein heißt kämpfen, sagt Buffy. Auch mit dem performativen Kollektiv Call Monica legt Gaia die Politik des männlichen Blicks bloß. Die Macht, die sich im männlichen Blick auf Frauen austobt. In seiner Objektivierung weiblicher Körper. Als tief verwurzelter kultureller, gesellschaftlicher Instanz, die nicht nur Männer am Leben erhalten, sondern auch Frauen, die mit ihren Blicken die Machtverhältnisse männlicher Blicke mit aufrechterhalten. Diesen Blicken sucht das Kollektiv in seiner Perfomancekunst zu trotzen, sie zu erschüttern.

Sie merken, ich möchte Sie heute abend nicht einfach nur eine Autorin kennenlernen lassen, sondern auch ihre Haltung.

Meine Poesie, sagt Gaia Ginevra Giorgi, ist Erfahrungspoesie.

Ihr Schreiben ist von profunder Sinnlichkeit:

‘kannst du es fassen

wie oft ich dir mit der zunge

den schlaf aus den augen getragen habe’

– eine Sinnlichkeit, die Gaia auch der Erkundung der Zeit entgegenbringt. Den anderen Arten. Den Gegenständen. Das ist zutiefst animistisch – und pan-demokratisch. Tatsächlich ist Gaia auch eine postmoderne, pop-ikonische Schamanin. Ihr Werk durchzieht das Motiv der Zerstückelung, der Fragmentierung. Diese, sagt sie in einem Interview, stellen für sie die Basis neuer Kontextualisierung dar, der Verwandlung. Möglicher neuer Allianzen und ihrer Inklusion in die Diskurse. Eine Poetik der Vermischung zu einer Zeit der sich nicht von der Pandemie bedingt verschlossen habenden Grenzen. Die Zerstückelung ist eine schamanistische Technik, um sich dem Anderen zu öffnen. Gaia ist auch Jenseitsvermittlerin, die mit den Toten, den Geistern und Gespenstern von Menschen und Tieren im Kontakt steht, ökologische Vermittlerin zwischen der Menschengruppe und ihrer natürlichen Umgebung. In der Fragmentierung sieht Gaia außerdem die Gelegenheit, sich den Rändern zuzuwenden. Eine besondere Leidenschaft hat Gaia für die Ränder der Städte, der urbanen Menschenbereiche, dort, wo die Natur sich Artefakte wieder zurückholt, sie überwächst, ad absurdum treibt, indem sie sie ignoriert, ihre Körperlichkeiten neu schreibt. Gaias Überlebensstrategie für den zweiten Pandemie-Schub im vergangenen Herbst war es, in die Ränder zu gehen, ins Niemandsland dort, wo Italien schon geendet ist und Frankreich noch nicht zu beginnen beliebt. Übrigens lebt sie, die im Piemont geboren wurde, heute in Venedig, einer Stadt, die man als eine einzige Ansammlung von Rändern begreifen kann, die ihre Schönheit und Verrückung nicht zuletzt daher bezieht, dass sie weder vom Städtischen her noch vom Meer aus gedacht wirklich Sinn ergibt. Eine, wie Gaia sagen würde, Erscheinung.

2016 erschien Gaias erster Gedichtband Sisifo – Sysiphus – (Alter Ego Edizioni), und ein Jahr später bereits bei Interno Poesia ihre erfolgreiche zweite Gedichtsammlung Manovre segrete – Geheime Manöver. Aber die Erscheinung Gaia Ginevra Giorgi beschränkt sich nicht auf das weiße Walddickicht Papier, sie erklingt in oraler Poesie vom Feinsten, ist Soundkünstlerin, Performerin und Forscherin. Sich erinnern, sagt sie, ist performativ. Erinnerung ist Fiktion. Deshalb experimentiert Gaia mit vokalen Klanglandschaften, die gespenstische sind, Manifestationen, Aufrufungen, Dematerialisierungen, Zerstückelungen von Körper und Sehnsucht, und untersucht das Verhältnis von Text, Stimme, neuen elektronischen Geräten und architektonischen Räumen etwa auch durch ortsspezifische Projekte. Die Gespenster hervorzurufen, die den Orten innewohnen. Dafür kreiert sie die elektonischen Klänge, die Sie gleich hören werden, auf eine Art und Weise, die sie uns physisch sonderbar fremd-vertraut sein lässt. Sie basieren auf Feldaufnahmen, die Gaia macht, ihren Kontexten entrissene, in ihren Geschwindigkeiten manipulierte, durch und durch verfremdete Klänge, deren Orte unseren Ohren nicht rekonstruierbar sind und die, im gemeinsamen Flug mit Gaias Gedichten, stattdessen beim Zuhören uns ganz neu konstruieren. Aus unserer vermeintlichen Passivität als Publikum befreien und, so Gaia, zu unsere Nostalgien Projizierenden machen. Alles passiert live, im Moment, und wird sich genau so nie wiederholen. Sie werden selbst merken, was das mit Ihnen machen wird. Mich jedenfalls haben lyrische Klanglandschaften noch nie derart überzeugt. Und das allein schon physisch.

Was mich anbetrifft, sagt Gaia, werde ich eine der Tatsachen der Welt sein, und damit fortfahren, den Dingen Namen zu geben, Wörter zu erfinden, Möglichkeiten zu kreieren.

Acht der Gedichte, die gleich den Äther um unsere Ohren erfüllen und unsere Körper, dem alten griechischen mythologischen Glauben entsprechend, in Gaia sinken lassen werden, sind im selbst längst mythischen Versopolis-Schuber übrigens nicht nur in der Übersetzung, sondern auch im italienischen Original Erstveröffentlichungen. Und das, obwohl sie seit vier Jahren einen fundamentalen Teil von Gaias Auftritten bilden und in ihrem im Herbst erscheinenden neuen Gedichtband zentral sein werden. Sogar der Titel ihres nächsten Buches wird uns in Kürze umschweben: L'animale nella fossa. Das Tier in der Grube. Ein großartiger Titel. So sehr hat Gaia sich über ihre Einladung nach Hausach gefreut, dass sie hochkarätige Premieren für uns von ihrem leuchtend gespenstischen Altar zog. Und unser Versopolis-Schuber ist ein auch in Italien hochbegehrtes Sammlerstück.

Was uns auch umschweben wird ist Risiko. Grenzwagnis. Offenheit über Selbstpreisgabe hinaus: Die schamanistische Bereitschaft, nicht zurückzukehren. Tatsächliches Gewilltsein, in eine andere Haut zu schlüpfen. Die Poetin als veritable Gestaltwandlerin. Achten Sie – falls Sie bis dahin nicht alles um sich herum vergessen haben, wortlos in den Äther gestiegen und in Gaia gesunken sein sollten – darauf, was die Poetin im letzten Gedicht mit sich geschehen lassen wird, wenn sie sich plötzlich ‘im weißen scheinwerferlicht auf der strasse geblendet’ wiederfinden wird. Möglicherweise, wird nicht diejenige aus dem Scheinwerferlicht treten, die die Bühne betrat. Sondern ein ganz anderes Tier.

Gaia Ginevra Giorgis Eltern, sagte ich, haben hoch gepokert. Aber mit der mythologischen Macht ihrer Namen im Rücken – große Sagenwelten, die Gaias soziale und poetische Intelligenz an den Puls der Zeit und einige Atemzüge darüber hinaus bringt –, ist es vielmehr Gaia selbst, die mit ihrer ganz eigenen Durchmischung der poetischen Karten und Möglichkeiten oraler Poesie hoch pokert. Und so richtig abräumt, finde ich.

Hören Sie selbst. Tauchen Sie ein.

© Mikael Vogel.

Zitierte Gedichte aus: Gaia Ginevra Giorgi, Manovre segrete (Interno Poesia Editore 2017); Gaia Ginevra Giorgi, L’animale nella fossa (Miraggi edizioni, 2021). Deutsche Erstveröffentlichungen in: Gaia Ginevra Giorgi, Edition LeseLenz 2020. © für die Übersetzungen ins Deutsche: Mikael Vogel.

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Mikael Vogel