Marija Dejanović (Versopolis, 25. Hausacher LeseLenz 2022)

Marija Dejanovićs Phantasie ist fast unermeßlich. Einer ihrer Gedichtbände etwa heißt wunderschön Die Ethik von Brot und Pferden. Die in Prijedor in Bosnien und Herzegowina geborene, in Kroatien aufgewachsene und heute umgeben von üppigen Tälern und einigen der imposantesten Berge Griechenlands in Larisa lebende Dichterin spinnt ihr'n Garn. Sie spinnt und spinnt den Garn. Den der Imagination, der kleinen und großen Narrationen der Welt, der Gegenstände, der Tiere, der menschlichen Erfahrung – den ganzen einfallsreichen, launisch seine Farben abwechselnden Garn der Leben:

‘Träumen vom Anfang der Olive


vom blauen Fleck auf dem Oberschenkel des Himmels, den die Krähe


mit ihrem Schnabel aus dem eigenen Nest hervorgeholt hat’

Drei Moiren, drei Schicksalsgöttinen, gab es in der griechischen Mythologie: Klotho spann den Lebensfaden. Atropos, die Unabwendbare, durchtrennte ihn am Lebensende der Menschen. Dazwischen erhielt, bewahrte und bemaß Lachesis den Lebensfaden. An Lachesis muss ich denken bei Marija Dejanovićs Gedichten – sie erhalten und bewahren den Lebensfaden der Poesie inmitten der uns alltäglich klein oder historisch groß umgebenden Welt.

‘Meine Freunde leben in den Räumen zwischen Schrank und Wand

die man unmöglich erreichen kann’

Wie schön, Freundschaften zu beginnen, wo andere nur auf Spinnweben stoßen:

‘Wie stark auch immer ich meinen Arm ausstrecke, dringt das Schweigen

aus Spinnenweben in meinen Mund

[..]

Meine Freunde gehören zu mir, da sie zu niemandem gehören’

Bei diesen Freunden handelt es sich um: ein Tischbein. Eine kleine Plastikkugel. Ein gekringeltes Haar.

Der Garn der Leben kann auch wundervoll trügerisch, unvertrauenswürdig sein, und mit seinem Witz, seiner metaphorischen Farbenfrohheit die Realität wachrütteln:

‘die Vögel verständigen sich, indem sie mit ihren Bewegungen

die Laufbahnen der Himmelskörper

nachahmen’

wow! – – oder

‘Die Fische erschraken und versammelten sich in einem Schwarm

Sie beriefen eine Sitzung ein und beschlossen

ab dem nächsten Tag wie glückliche Fledermäuse zu leben

Sie würden zum Licht fliegen, die Augen schließen


und die Tage mit Hilfe der Sensoren zählen, die sie im Hals tragen’

Wie ich sagte: Marija Dejanovićs Phantasie ist fast unermeßlich. Und: Das Gedicht kann, wenn es uns etwas vorflunkert, paradoxerweise am Wahrsten sein.

Und wenn wir brauchen, dass das Gedicht uns wehtut, in diesem Jahr 2022 mit der schmerzvollen Realität eines Vernichtungskriegs inmitten Europas, scheut Marija Dejanovićs Poesie sich nicht, uns wehzutun. Darin beweist die Dichterin ihre Größe. Ihr Gedicht Aubergine, das kann ich, liebe Zuhörer*innen, Ihnen versprechen, werden Sie nicht vergessen. Die auf einem hart erkauften Quadratmeter gärtnernde Mutter, die sich mit jedem Hieb der Hacke von ihrem Kindheitsdorf, das es nicht mehr gibt, weiter entfernt; die Erinnerung an den Bürgerkrieg; die mütterliche Erzählung von den unhygienischen Bedingungen der Geburt ihrer Tochter, 'ich sei vor der ethnischen Säuberung geboren / obwohl es dabei gar nichts Sauberes gab'; die tragische Missbegegnung mit der Großmutter am Ende des Gedichts – Marija Dejanović macht klar: Geschichte frisst Mensch. Machtverhältnisse überschreiben Mensch. Identität: ungewiss. Der eigene Name: nur ein Grenzbahnhof irgendwo entlang der Strecke dieser Ungewissheit. Die gemeinsame Sprache eine 'Sprache der gegenseitigen Missverständnisse'.

Lassen Sie, liebe Zuhörer*innen, sich unvergesslich einspinnen im Garn von Marija Dejanović.

© Mikael Vogel.

Zitate aus: Marija Dejanović, Gedichte. Edition LeseLenz 2022. © für die deutschen Übersetzungen: Alida Bremer.

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Mikael Vogel