José F. A. Oliver (Lyrikfestival W:ORTE, Hohenems 2022)

José F. A. Oliver wagt Nacht für Nacht und Tag für Tag die Nacht. Rückhaltlos geöffnet – 'augnacht wacht am wind'. Nicht nur als passioniert Schlafloser – 'der tag / hat nicht genug stunden / den hinter- // halt zu deuten'. Die Zeit, Olivers Zeit, unsere Zeit – er ist einer ihrer akutsten und oft aktuellsten Kritiker. Und ihrer innigsten Liebhaber – 'stummpoliert die frage / wohin bleiben wir?'

Mit der unerbittlichen Passion des Nachfahrens eines andalusischen Stierkämpfers steht José F. A. Oliver der Zeit entgegen – lockt, provoziert den Stier Zeit in sein leuchtend rotes Schreibtuch und nimmt dort mit tänzerisch andalusischem Hüftschwung ihn aufs Horn. Der Stier Zeit reagiert instinktiv auf das Tuch, neigt aber tendenziell nicht zum Kampf; er muss permanent gereizt werden, damit er gegen den Matador kämpft. Die Farbe Rot sieht der Stier Zeit in Wirklichkeit nicht, das weiß selbstverständlich das oliver'sche Gedicht, sondern das wilde Flattern, die schnellen Bewegungen, die José Oliver mit dem Tuch, der muleta, vollführt, sind's, die den Stier Zeit wütend machen. Und wie schnell Olivers Gedichte sich bewegen! Wie durch und durch sie ihre Leser*innen bewegen! Sie zu lesen macht zeittrunken – Sprach-Notvorräte für kommende W:ortlosigkeiten. Für die jetzigen. Für die vorigen. Sie wirken auch nachträglich.

Olivers Schreibhand umtänzelt uns so leicht wie Picasso beim Konturieren der Umrisse seiner Hummer. Vers um Vers verdichten sich uns Hummern zu den Wellen und Wogen des oliver'schen ozeanisch großen Sprachmeeres. Mit ›meer‹-, mit ›meerin‹-tiefer Erfahrung. ›meer‹, ›meerin‹ – diese oliver'sche Genderung entstand lange vor der Geburt des Genderns. ›Die Madrider‹, zitiert José seinen Großvater, ›kennen nur die Hälfte der Meere. Denn sie sagen ausschließlich el mar. Wir Fischer in Andalusien aber, wir holen die Netze ins Überleben, und dabei verändert sich das Wort. Wenn wir im Morgengrauen zurückkehren und die Netze sind voll, dann sagen wir la mar. Kommen wir jedoch aus einer Nacht, die uns mit leeren Körben nach Hause gehen lässt, dann erst sagen wir el mar.‹

Und wie voll die oliver'schen Poesienetze sind! Sein Literaturfestival, der Hausacher LeseLenz, poetisiert in diesem Juli zum 25. Mal das Kinzigtal und wirkt weit darüber hinaus bis in entlegenste Weltbuchten. Vor lauter Meerin dürfte José das Meer schon lange nicht mehr gesehen haben.

Hoch- – ach was, höher! – hohenemslich verehrtes Publikum –– lauschen wir José F. A. Oliver bei seinen Fischzügen in der Gunst der ›meerin‹ Nacht.

© Mikael Vogel.

Zitate aus: José F. A. Oliver, nachtrandspuren, © Suhrkamp Verlag, 2002; José F. A. Oliver, Mein andalusisches Schwarzwalddorf, © Suhrkamp Verlag, 2007; José F. A. Oliver & Mikael Vogel, zum Bleiben, wie zum Wandern – Hölderlin, theurer Freund, © Verlag Schiler & Mücke, 2020.

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Mikael Vogel