Raoul Eisele (Lyrikfestival W:ORTE, Buchhandlung Wagner'sche 2022)

Raoul Eisele ist bereits ein neuer sanfter Riese in der Lyrik. Sein Potential ist mindestens ebenso luftig. Mit seinem im vergangenen Jahr im Verlag Schiler & Mücke erschienenen ersten Gedichtband Einmal hatten wir Schwarze Löcher gezählt trat er in Erscheinung wie jemand, der bereits seinen vierten, seinen sechsten Band erarbeitet hat. Vielleicht hat er das ja, selbst falls nicht schriftlich. So hervorragend jedenfalls sind seine Gedichte. Wer seinen Auftritt aus Schwarzen Löchern her macht, hat, so oder so, eine Reise hinter sich. Einen Kosmos der Erfahrung und Reflektion tragen seine Gedichte inmitten kondensierter Raumzeit in und unter ihren Häuten. Und diese ihre Häute, die Häute der Gedichte von Raoul Eisele, sind so offen, wagen ihre Poren so unerschütterlich erschütterbar zu tragen. So gelingt ihnen mit Leichtheit, das Leben in seiner Intensität und seinen wilden Widersprüchlichkeiten einzufangen. Unsere Sinne anzufüllen, und zwar auch mit uns selbst. Konzentriert, intim, ebenso evozierend wie selbst evoziert, elliptisch und vielstimmig vor lauter Überfülle – das ist der Eisele-Sound. So bringt er uns zum Schwingen: wie wir uns selbst lange nicht mehr kannten. Während das Schwarze Loch eine so starke Gravitation erzeugt, dass nicht einmal das Licht dessen Bereich verlassen kann, leuchtet aus Eiseles Gedichten hervor alles auf – und wir leuchten mit.

'weißt du, ich wollte, wollte unsre Erinnerung

nicht aus dem Fenster' –


mit einer Elipse hat er uns mittendrin. Wer vor den Rissen keine Angst hat, sie zu Zentren des Denkens und Fühlens zu machen wagt, findet, dass alles möglich, alles denkbar ist. Eins meiner Lieblingsgedichte von Raoul ist ein sich unter Wasser abspielendes Liebesgedicht, das sich auch wie unter Wasser liest, in dem auch wir uns unter Wasser finden, ahnen, dem Autor zutrauen, dass wir nicht auftauchen – –; uns Autor und Gedicht anvertrauen; spüren, dass Gedicht und wir vom Poeten unter Wasser geschrieben worden sein müssen.

'das ist hier immer so, unter Wasser', beginnt das Gedicht

'das Versagen der Stimme, das Verstummen

der Kehlen, sie füllen, überflutet von Wellen'

Das Wasser verlassen wir in diesem Gedicht verändert, eben weil wir es nicht verlassen. 'etwas tiefer, da ist es schön warm'. Selbst der im Gedicht angerufene Schwan ist von unten gesehen, ist ertrunken. Seine Federn – sehr witzig – 'schwimmen mit den fischen'. Ein Gedicht, das sich in die faszinierende Abstammungslinie der Schwanfigur in der Lyrik, man denke an Hölderlin, an Celans 'SCHWANENGEFAHR,' einreiht.

Eiseles Gedichte zerwellen, zersinnen uns, setzen uns neu zusammen, atmen uns neu aus, so wie Strand sich zwischen jedem Vers der Wellen jeweils neu geformt wiederausatmet findet, bis zur nächsten und nächsten Verwandlung:

'und ich

schwamm das Rauschen der Meere, schwamm

als Goldfisch ohne Glas, als täte ich es zum ersten Mal

ganz frei und warm und unbekümmert'

Das Glas zieht Eisele uns rund um unsere Sinne hin weg. Deshalb will, kann man mit dem Lesen, mit dem Zuhören einfach nicht aufhören. Muss man auch nicht.

Liebe Zuhörer*innen: Raoul Eisele.

© Mikael Vogel.

Alle Zitate aus: Raoul Eisele, Einmal hatten wir Schwarze Löcher gezählt, © Verlag Schiler & Mücke, 2021.

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Mikael Vogel